1.7. Das ungarische Graurind - ein Exportartikel auf vier Beinen

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Einleitung
Ein imposantes Tier mit exzellentem Fleisch
Geschlachtet und komplett „ausgeschlachtet“
Das Schicksal der Rasse nach dem 2. Weltkrieg

Das berühmte „Feszty-Panorama“ (auf Ungarisch: Feszty-körkép) ist ein etwa 1.800 m² großes Rundgemälde, benannt nach dem ungarischen Maler Árpád Feszty. Er stellt mit diesem Werk den Einzug der Magyaren ins Karpatenbecken, die so genannte ungarische Landnahme von 896 dar. Das Monumentalbild, entstanden zum 1000-jährigen Jubiläum dieses historischen Ereignisses, wurde 1896 auf der Budapester Millenniumsausstellung gezeigt. Heute ist es im Nationalen Historischen Gedenkpark in Ópusztaszer zu sehen. Auf diesem Gemälde, unweit von Fürst Árpád, sieht der Betrachter mehrere ungarische Grauochsen, einen großen Wagen ziehend. Unverwechselbar die ausladenden, geschwungenen Hörner der Tiere sowie ihr kräftiger Körperbau.

Doch gab es diese Tiere wirklich bereits im 9. Jahrhundert auf diesem Gebiet? Die Funde der Archäozoologen aus dieser Zeit können das nicht bestätigen. Im Gegenteil: Die Knochen, die bei den Ausgrabungen ans Tageslicht befördert wurden, weisen eher auf Tiere mit einer Widerristhöhe von nur 105 - 110 cm (beim Graurind zwischen 135 - 155 cm) und viel kleinere Hörner hin. Größere Exemplare gab es laut Forschung erst ab dem späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit.
Fesztys Darstellung ist also höchstwahrscheinlich ein Anachronismus, sie zeigt jedoch, dass der ungarische Grauochse schon damals etwas Symbolträchtiges für die ungarische Nation darstellte.

Über den Ursprung dieser besonderen Rinderrasse stellten Forscher und Wissenschaftler seit dem 19. Jahrhundert immer wieder neue Theorien auf: Die Tiere seien mit den Kumanen und anderen Völkern ins Land gekommen, die vor den Tataren auf der Flucht waren, behauptete die eine These. Andere meinten, die Graurinder wurdenvon den Ungarn bei ihren Beutezügen aus südlichen Ländern mitgebracht. Wieder andere vertraten die Meinung, sie seien erst während der türkischen Herrschaft von Völkern aus dem Balkan mitgeschleppt worden. Eine neuere Theorie geht eher davon aus, dass die Rasse aus der Kreuzung von kleineren, rothaarigen Rindern mit dem deutlich größeren Auerochsen entstanden ist. Diese These von László Matolcsi, die eine Kreuzung von aus Podolien mitgebrachten Rindern mit den im Karpatenbecken heimischen Tieren und eine bewusste Züchtung annimmt, scheint aufgrund der bisherigen Forschung am wahrscheinlichsten.

Der Auerochse (Bos primigenius) lebte sehr wahrscheinlich schon zu Árpáds Zeiten im Karpatenbecken. Er gilt erwiesenermaßen als Vorfahre aller Hausrinderrassen.
Viele Legenden ranken um den bereits ausgestorbenen Auerochsen. Aufgrund der Beschreibungen müssen es imposante und respekteinflößende Tiere gewesen sein.

Abu Hamid al-Gharnati, ein arabischer Reisender aus dem 12. Jahrhundert berichtet folgendermaßen:

„In Basgird (Karpatenbecken) lebt ein großes Wildtier. Das Tier ist so groß wie ein Elefant. Nur das Fell wiegt so viel wie das Gewicht von zwei starken Rindern. Der Kopf ist so groß wie der von einem Ochsen. Es wird gejagt. Sein Name ist attaya. Ein wunderbares Tier. Sein Fleisch ist ausgezeichnet und fettreich, seine Hörner sind so groß und so lang, wie der Rüssel eines Elefanten.“

Laut einer Sage wirkte auch beim Bau des Straßburger Münsters im 11. Jahrhundert ein solch gewaltiges Tier mit:

„Da kam ein Fuhrmann aus Ungarn nach Straßburg, mit einem riesigen Büffel oder Auerochsen. Solch einen großen Auerochsen hatte man in den Ländern am Rhein noch nie gesehen.Was aber alle noch mehr in Erstaunen versetzte, war nicht nur die kolossale Gestalt des Auerochsen, sondern auch seine gewaltigen Hörner. Beide waren gekrümmt und am Ende spitz. Jedes Horn hatte beinahe sieben Schuh. Das Tier hatte einen riesigen Körper und Riesenkraft. Allein zog der ungarische Büffel eine viel schwerere Last und Ladung als ein Gespann Pferde oder Ochsen. Mit bewundernswerter Leichtigkeit schleppte er die schwersten Steinquader. […] Jedermann in Straßburg kannte den gewaltigen ungarischen Ochsen und rühmte die Muskelkraft des Riesentieres.Nach vielen Jahren schwerer Arbeit starb der Büffel. Zur Bewunderung und zum Andenken hing man eines der gigantischen Hörner an einer Kette im Münster auf.“ Das etwa zwei Meter lange Horn war dort bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu sehen.

Ein imposantes Tier mit exzellentem Fleisch

„Wer kein ungarischer Ochs ist, komm mir nicht zu nah!“, ruft Götz von Berlichingen im gleichnamigen Drama von Goethe, als er gefangen genommen werden soll. Nur wer die Kraft eines ungarischen Ochsen hat, hat gegen ihn im Kampf überhaupt eine Chance. In der deutschen Literatur wurde das mächtige Tier zur Metapher.

„Wie ist das ungarische Graurind? Es ist zäh wie der Steppenwolf, anspruchslos wie Gras auf salzigem Boden und du kannst es noch so viel mästen, das Fleisch bleibt so mager und muskulös wie beim Wildhasen.“, fasstder Rinderhirte János Kiss vomHortobágy die Vorteile der Rasse zusammen.

Viele Eigenschaften waren geradezu optimal für den langen Transportweg quer durch Europa:Das ungarische Graurind ist anspruchslos, braucht keine Stallung, nur Weidegras oder gemähtes Heu. Es kann sowohl im Winter als auch im Sommer draußen gehalten werden. Das typisch graue Fell wird im Herbst und Winter dicker. Mit Hilfe von Muskelbündelchen wird Luft unter den Haaren eingeschlossen, um das Tier vor der Kälte zu schützen. Aber auch die Sommerhitze vertragen die Graurinder problemlos: Im Sommer wird ihr Fell wieder dünner und die hellgraue Farbe schützt sie vor den Sonnenstrahlen.
Die außerordentlich starken Beine und die ausgeprägte Muskulatur machten es möglich, dass die Tiere die langen Marschrouten von manchmal bis zu 1.500 Kilometernohne Erschöpfungserscheinungen überstanden. Ein anderer wichtiger Vorteil war, dass die Herden nach den strapaziösen „Ochsentouren“ relativ schnell wieder zunehmen und die Gewichtsverluste aufholen konnten. Somit standen sie nach einer kurzen Mastphase raschwieder als Ware mit einem stattlichen Schlachtgewicht zur Verfügung. Wenn man das alles bedenkt, war das Graurind der optimale Exportartikel: einer, der sich selbst transportiert, also auf den eigenen vier Beinen vom Züchter zum Fleischmarkt läuft, wetterfest und transportsicher „verpackt“ ist und unterwegs nur relativ wenig Kosten verursacht.
Im Frühjahr und im Sommer wurden ca. 10-15 % des Ochsenbestandes für den Export ausgewählt. Ein Beispiel aus dem Jahr 1700 zeigt die Zusammensetzung der Herde: 25 % Jungochsen, 44 % Standardochsen mit einem Gewicht von 450-480 kg und 31 Prozent fette Ochsen, die 500 bis 650 kg wogen. Es gab aber auch Herden, die ausschließlich aus fetten Ochsen bestanden, diese waren auf den westlichen Märkten nämlich sehr begehrt.
Das Schlachtgewicht der „Ungarochsen“ erreichte oft das 2-2,5fache der heimischen Tiere. Aber nicht nur die gelieferte Fleischmenge, auch die Fleischqualität war ausschlaggebend für den Export. Auf den Märkten von Augsburg oder Nürnberg in der Frühen Neuzeit war das Fleisch der ungarischen Grauochsen am hochwertigsten und damit auch am teuersten. In Metzger-, Handwerks- und Schlachthausordnungen wird das ungarische Ochsenfleisch ganz oben mit dem höchsten Preis gelistet:Ein kulinarischerLeckerbissender damaligen Zeit.

Das Fleisch der ungarischen Graurinder ist dunkelrot und besitzt eine besonders feine Maserung. Diese dunkle Farbe entsteht durch den hohen Muskelpigmentgehalt. Es enthält viel Eiweiß und ist reich an ungesättigten Fettsäuren, an Vitamin B und E sowie an Mineralstoffen wie Eisen oder Zink. Beim Braten fällt das Fleisch weniger zusammen, da es nur sehr wenig Wasser enthält. Der Geschmack ist einzigartig und erinnert an den Geschmack von Wild.
Die Grauochsen waren auch als Zugtiere sehr beliebt, da sie Stärke und Ausdauer vereinten. In vielen Darstellungen sind sie vor Kutschen oder landwirtschaftlichen Geräten eingespannt zu sehen. Nachdem sie aber als gewinnträchtige Exportware für die westeuropäischen Fleischmärkte entdeckt wurden, erfolgte die Züchtung vorzugsweise für diesen Zweck.
Das besondere Merkmal derRasse sind die geschwungenen, furchteinflößenden Hörner. Die Hörner des Stiers sind kürzer, aber wesentlich dicker als die der Kuh. Diese sind länger und dünner. Die längsten und größten Hörner besitzen jedoch die Ochsen. Die meisten Hörner sind an der Spitze schwarz, an der Hornwurzel schmutzigweiß und in der Mitte weiß.

Wenn auch diese Kopfverzierungenauf den ersten Blick ziemlich ähnlich aussehen, bei genauerem Betrachten kann man eine große Vielfalt erkennen. Der Ethnologe Károly N. Bartha hat 25 verschiedene Bezeichnungen für die verschiedenen Hörnerformen in der ungarischen Sprache der Hirten aufgezeichnet. So gibt es z. B. Schnurrbart, Breze, Tulpe, Laute, gabelförmig, gedreht oder auch eine etwas asymmetrisch geratene Form, die man liebevoll„von Jesus berührt“ nannte.
Die Augen sind mandelförmig, dunkel und glänzend. Das Fell ist hell- bis dunkelgrau, nur die Kälber kommen mit einem rötlich-rehbraunen Fell auf die Welt, das ungefähr nach einem halben Jahr die graue Farbe annimmt. Die schwarze Schwanzquaste galt jahrhundertelang als Siegel, das die Originalität der Ware bezeugte und durfte deshalb nicht vom Schlachtkörper getrennt werden.
Das ungarische Steppenrind gilt neben anderen einheimischen Tierrassen wie demMangalica-Schwein (Wollschwein) oder demZackelschaf als „Hungaricum“ und steht unter Naturschutz.

OCHSE, STIER, BULLE, KUH
Was ist der Unterschied zwischen einem Ochsen und einem Stier?
Ein Ochse ist ein kastriertes männliches Rind. Das geschlechtsreife, nicht kastrierte männliche Tier heißt dagegen Stier oder Bulle. Durch die Kastration konnten die Tiere besser für die Arbeit als Zugtiere abgerichtet werden, aber auch das Wachstum wird so verlangsamt und die Ochsen brauchen im Vergleich zu Bullen die doppelte Zeit, bis sie ein passendes Schlachtgewicht erreichen. Das Fleisch eines Ochsen ist deswegen wesentlich feinfaseriger und schmeckt durch den veränderten Hormonhaushalt besser.
Das weibliche Tier heißt Färse oder Kalbin bis zum ersten Kalben, erst danach wird es als Kuh bezeichnet.
In altenhistorischen Aufzeichnungen werden diese Begriffe noch nicht eindeutig verwendet und oft miteinander vermischt.


Geschlachtet und komplett „ausgeschlachtet“

Die ungarischen Ochsen waren nicht nur als Fleischlieferanten wichtig, so gut wie das ganze Tier konnte verwertet werden.
Aus dem Talg (Unschlitt) der geschlachteten Tiere wurden weiße Seifenund Wagenschmiere hergestellt oder Kerzen geformt. Magen und Darm konnten als Wursthäute verwendet werden. Der gereinigte Darm wurde geräuchert, getrocknet und mit Öl behandelt, daraus konnten Saiten für Musikinstrumente oder Armbrustsehnen gemacht werden. Aus der äußeren Haut des Mastdarmes fertigten die Goldschmiede Werkzeug und Formen für die Blattgoldherstellung. Aus den Rinderknochen konnten die Zeitgenossen verschiedene nützliche Gegenstände wie Pfeifen, Tiegel, Döschen, Flöten oder Messer herstellen. Knochen und Knorpel dienten außerdem zur Herstellung von Leim, den Tischler, Buchbinder oder Hutmacher gerne für ihr Handwerk verwendeten. Die langen Hörner der Tiere waren äußerst begehrt, daraus konnten handwerklich begabte Meister die unterschiedlichsten Gegenstände wie Knöpfe, Kämme, Löffel, Trink- oder Gewürzbehälter, Laternenscheiben und Blashörner anfertigen. Viele dieser Gegenstände wurden auch mit eingeritzten wunderschönen Motiven geschmückt. Aus der rohen Haut bereiteten die Gerber große Lederstücke, die von Schuhmachern, Sattel- und Kutschmachern, aber auch von Buchbindern gerne genommen wurden. Das Ochsenblut diente als Rohstoff für eine besondere Farbe, die als„Berliner Blau“ bekannt wurde. Diese Farbe verwendete man beim Färben von Holz, Tuch oder Garn.Der sogenannte Ochsenziemer oder Ochsenfiesel, eine Art Peitsche, wurde aus getrocknetem Bullenpenis hergestellt. Sogar der Mist aus dem Stall fand Verwendung, als Dünger für die Felder oder getrocknet als Heizstoff.
Diese außerordentliche Vielfalt an Verwendungsmöglichkeiten verweist auf eine Zeit, als noch alles, was nützlich war, verarbeitet und nichts weggeschmissen wurde.
Zahlreiche Berufe hingen mit der Verwertung der Schlachttiere zusammen: Fleischer, Gerber, Kamm- und Knopfmacher, Seifenkocher, Kerzengießer, Lederer, Sattler, Leinenmacher, Bogner, Schuh- und Stiefelmacher, Instrumentenhersteller usw. Somit wurden auch diese Berufsgruppen am europäischen Ochsenhandel beteiligt und regelmäßig mit neuen „Rohstoffen“ aus Ungarn versorgt.

Das Schicksal der Rasse nach dem 2. Weltkrieg

Nach dem 2. Weltkrieg und der Verstaatlichung der landwirtschaftlichen Betriebe in Ungarnwar das ehemals so gewinnbringende Graurind plötzlich nicht mehr wichtig. Man führte stattdessen Milchkühe aus der Sowjetunion ein, um diese mit den ungarischen Rindern zu kreuzen und bessere Milcherträge zu erzielen.
Mitte der 60er-Jahre wurden nur noch 180 Kühe und sechs Bullen in den ungarischen Staatsbetrieben gezählt. Imre Bodó und einigen anderen Tierzüchtern ist es zu verdanken, dass die Rasse damals nicht ausgestorben ist. ImHortobágyer Staatsbetrieb konntensieeinige Tiere verstecken.Ohne diese beherzte Aktion gäbe es womöglich nur noch einige wenige Exemplare in Ungarn, die man vielleicht noch im Zoo bestaunen könnte. Diese Initiative machte es möglich, die Graurinder zu erhalten und den Bestand später wieder zu steigern. Heute leben 20.000 Graurinder in Ungarn, vor allem auf dem Gebiet des Nationalparks Hortobágysowie im Nationalpark Kiskunság.Eine neuere Verbreitung verdankt die Rasse auch der Gründung der länderübergreifenden Kulturlandschaft Fertő-Neusiedler See. So weidet heute das Graurindauch wieder– wie damals – im Seewinkel an der ungarisch-österreichischen Grenze.
Nach der Wende, 1991 wurde die Vereinigung der Züchter des Ungarischen Steppenrinds (Magyar SzürkeSzarvasmarhátTenyésztőkEgyesülete) gegründet, die bis heute die Züchtung koordiniert. Die Produkte aus ungarischem Graurind sind als markengeschütztes Bio-Fleisch bzw. als Bio-Fleischprodukte erhältlich.

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